Vom Schreiben können und Schreiben lernen in Studium und Wissenschaft
- mpahl2
- Dec 8, 2023
- 4 min read
Updated: Apr 20, 2024
Das wissenschaftliche Schreiben wird in vielen Hochschulen und Universitäten stillschweigend als Fähigkeit vorausgesetzt, die die Studierenden spätestens bei ihrer Bachelorarbeit beherrschen sollen. Es gibt immer mehr Angebote – Schreibberatung, Schreibwerkstätten und ähnliches – in denen diese Fähigkeit auch vermittelt wird, aber diese sind meist optional, teils kostenpflichtig und nie so weit ausgebaut, dass alle Studierenden davon profitieren können. Dieses Vakuum ermöglicht, dass falsche Vorstellungen über das wissenschaftliche Schreiben sich halten und nur langsam richtiggestellt werden.

Niemand schreibt Diamanten
Es ist zum Beispiel nicht hilfreich, von sich selbst beim ersten Entwurf einen reifen, perfekten Text zu erwarten. Die Vorstellung, dass andere Studierende ihre Masterarbeit einfach runtertippen, löst viel Frust aus. Es ist aber selbst bei gestandenen Wissenschaftler*innen nicht so. Die seriösen Fachartikel und Buchkapitel, die dich mit ihrer perfekten Argumentation und Ausdrucksweise so einschüchtern, sind nicht in einer Sitzung entstanden. Die ersten Entwürfe dieser Arbeiten sind vielleicht chaotisch und „unreif“ - aber das ist egal, denn sie werden nie im World Wide Web oder gedruckt erscheinen, sie verbleiben auf dem eigenen Laufwerk. Diese rohen Entwürfe durchlaufen mehrmaliges Überarbeiten und ein professionelles Lektorat, bevor sie veröffentlicht werden. Wissenschaftliche Texte drehen viele Schleifen, und die erste Rohfassung eines jeden Kapitels darf genau das sein: eine Rohfassung.
Schreiben ist eng mit dem Denken und Entwickeln verwoben. Das braucht Raum, auch auf dem Papier oder in einem Dokument. Erlaube dir also, unperfekte Entwürfe zu schreiben.
Schreiben ist auch immer ein Experiment
Während meiner Bachelorarbeit für Zellbiologie habe ich im Labor gearbeitet und Versuche mit dem Erbmaterial der Fruchtfliege gemacht (ja, ich habe einen Abschluss in Zellbiologie, aber das ist eine andere Geschichte).
Als ein Experiment mal wieder kein, oder zumindest nicht das gewünschte Ergebnis hatte, hat meine Betreuerin mir tröstend erklärt, dass oft 90 Prozent der Experimente in einem Projekt für die Katz sind. Dass man da aber auch durch muss, um seine Ideen weiterentwickeln zu können.
In meiner Doktorarbeit in den Literaturwissenschaften - ja, ich habe nach dem B.Sc. eine radikale Kehrtwende gemacht - habe ich oft an diese 90 Prozent gedacht, wenn ich mal wieder einen Absatz gestrichen habe.
Ich habe mich damit getröstet, dass es in anderen Wissenschaften anscheinend nicht viel anders ist als im Labor und in der Zellbiologie.
Wenn ich jetzt mit etwas Abstand zu einem Text zurückkomme und merke, das ist es noch nicht; da muss ich Teile neu schreiben, dann sage ich mir selbst, dass es im wissenschaftlichen Schreiben zwar nicht 90 Prozent, aber doch auch eine Menge Ausschuss gibt. Und nur ein kleiner Teil von all den Texten, die ich in meiner Forschung schreibe, tatsächlich ein Zuhause in einer Veröffentlichung finden.
Indem ich den Ausschuss schreibe, ermögliche ich erst den richtig guten Text. Denn das Schreiben ist eng mit dem Denken und Entwickeln verwoben - viele Ideen kommen erst beim Schreiben. Es ist also nicht hilfreich, das Schreiben als letzten Arbeitsschritt zu sehen. Wir sollten den Schreibprozess eher als Begleitprozess anerkennen, der neben dem Forschen passiert und damit verwoben ist.
Wenn der Schreibprozess auf diese Weise in ein anderes Licht gerückt wird, fällt bei vielen Studierenden der Druck ab, den das leere Dokument bei ihnen auslöst.
Schön wär’s also, wenn man in der Abschlussarbeit einfach ganz selbstsicher einen Schritt nach dem anderen machen - oder besser schreiben - könnte. Aber so linear ist der Schreibprozess leider nicht.
Es ist schwer, bevor es leicht wird: Schreiben lernen in Wissenschaft und Studium
Wenn eine Studierende mir sagt, sie könne einfach nicht gut schreiben, dann erwidere ich das, was ich meinem Sohn sage, wenn er frustriert ruft „Ich kann das nicht!“ – „NOCH nicht!“ Denn Schreiben – gut schreiben und ohne Frust schreiben – kann man lernen, genauso wie schwimmen, tauchen und Schuhe zubinden. Dazu gehört üben, üben, üben, und es wird besser gehen, jedes Mal. Auch dieser Mythos hält sich viel zu lange: Die Welt ist nicht zweigeteilt in die einen, denen Schreiben-Können als Talent im Erbmaterial mitgegeben wurde, und „die Anderen“, sondern (wissenschaftlich) Schreiben ist eine erlernbare Fähigkeit.

Hast du die Vorstellung, dass du deine Abschlussarbeit einfach runterschreibst, wenn du „so weit“ bist? Vielleicht, wenn du genug recherchiert und gelesen hast? Dieses „Hinten anstellen“ des Schreibens verhindert das „Denken mit Papier“, das Verknüpfen von Ideen und Entwickeln von Gedanken, die das Schreiben zu einem kreativen Prozess machen. Wenn du dagegen immer wieder etwas schreibst, trainierst du diese Prozesse und baust den Druck ab, der sich andererseits unweigerlich aufbaut und dich blockiert. Es ist also ratsam, während des Recherchierens und Lesens auch schon zu schreiben, hier und da einen Absatz - eine Gegenüberstellung von Argumenten, eine Erklärung von Zusammenhängen - um den „Schreibmuskel“ zu trainieren. Und in deiner Schreibphase solltest du dir erlauben, zwischendurch auch mal wieder etwas zu recherchieren, zu einer bestimmten Fragestellung noch einen Fachartikel zu lesen oder dein Wissen zu einem wichtigen Aspekt deiner Arbeit zu vertiefen. Das lockert den Schreibprozess auf und steigert vielleicht deine Motivation, danach mit neuem Mut und Wissen deine Arbeit weiterzuschreiben.
Der Stand des Schreiben-Lernens und der Lehre des Schreibens an den Hochschulen und Universitäten in Deutschland hat sich in den letzten Jahren bereits deutlich verbessert. Dennoch liegt es immer noch in der Verantwortung der Studierenden, sich das wissenschaftliche Schreiben anzueignen - entweder, indem die vorhandenen Angebote angenommen werden, oder im Selbststudium und mit privat organisierter Unterstützung.
Comentarios